19. Dezember 2007
„Der schöpferische Beherrscher der Volkssprache“ - Gedanken zur Lyrik Viktor Kästners (1826-1857)
Der Wunsch, Literatur aus der Sicht regionaler Gegebenheiten zu untersuchen, um ihr gerecht zu werden, entspringt – so sagen die Fachleute – nicht zuletzt einem Reaktionsimpuls auf immer sichtbarere Globalisierungsvorgänge. Wohl gehen die Anfänge des so genannten literarischen Regionalismus auf das ausgehende 19. Jahrhundert zurück, doch kam es erst viel später zur Systematisierung der Untersuchungskriterien, deren wichtigste Forderung die größere Beachtung der regionalen Akzente bei Erfassung und Beurteilung eines Literaturwerks ist. In ihrer Aktualität liegt eine Chance, das poetische Mundartwerk des 1826 im evangelischen Pfarrhaus in Kerz am Altfluss geborenen, 1857 noch nicht einunddreißigjährig in einem Haus der Hermannstädter Heltauergasse gestorbenen Siebenbürger Sachsen Viktor Kästner angemessener zu werten als noch vor einem Menschenalter.
Zu den allgemeinen literaturgeschichtlichen und -analytischen Perspektiven, die sich hier eröffnen, kommen bei der Betrachtung des Werks Kästners Besonderheiten der Stellung des Siebenbürgisch-Sächsischen am Beginn des 21. Jahrhunderts hinzu, die den Betrachtungswinkel erweitern. Zurückliegende Einengungen werden vor allem dann deutlich, wenn man sich z.B. Annäherungen an Viktor Kästner vergegenwärtigt, die vor 1989/90 in Siebenbürgen unter staatsdoktrinärem Zwang vorgenommen werden mussten. So großen Kenntnisreichtum diese im Einzelnen verraten – allen ist gleichsam zwischen den Zeilen das Stöhnen des Autors über den Druck der Zensur anzuhören. Ob Kästner denn auch ein Revolutionär gegen die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit gewesen sei, ob er auf der Seite der unterdrückten Masse oder jener der Herrschenden gestanden habe, musste da z.B., vereinfacht ausgedrückt, untertänigst gefragt werden. Der Krampf, der solchen Betrachtungen anhaftet, wirkt heute peinlich und absurd. Dass Kästners Mundartgedicht zur Zeit beider europäischer Diktaturen – des Nationalsozialismus und des Kommunismus – aus den Unterrichtsbüchern der deutschen Schulen in Siebenbürgen verbannt war, spricht Bände.
Freilich stellt sich beim Versuch, Kästners schmales Werk – es umfasst nicht mehr als einen Band „Gedichte in siebenbürgisch-sächsischer Mundart“ (1862, 1877, 1885, 1927, 1957, 1997) – im Kontext von Kulturvoraussetzungen, -einflüssen, Zeitumständen und -entwicklungen möglichst komplex zu beleuchten, zugleich die Frage nach dem Fortleben von Mundarten in einer Geschichtsphase, in der auf unserem Globus monatlich Dutzende alter Sprachen und Dialekte endgültig aussterben. Die Frage stellt sich erst recht im Blick auf das Siebenbürgisch-Sächsische, dem durch den Verlust der Siedlungseinheit, in deren Rahmen dies vor allem aus rheinischen Ausgangsgebieten stammende Idiom gesprochen wurde, im wörtlichen Sinn der Boden entzogen ist. Es gehört zu den Widersprüchen unserer Epochen, dass sich andererseits gleichzeitig Sprachforscher sorgenvoll über die Beobachtung der Bildung neuer kleiner und kleinster Dialektgruppen auf Kosten der Verarmung der Hochsprache äußern – Schutzreflex vor der unaufhaltsam um sich greifenden globalen Lebensuniformisierung, nennen sie den Vorgang. Für das Siebenbürgisch-Sächsische besteht nicht einmal diese Aussicht auf Erhaltung oder Wiederbelebung. Was also, könnte gefragt werden, was soll vor dermaßen abträglichem Hintergrund alles Erinnerungsbemühen um den Poeten des 19. Jahrhunderts, auch wenn Kenner ihm einen herausragenden Platz unter den Mundartdichtern seiner kleinen, heute rapid schrumpfenden Volksgruppe bestätigen?
Der am 30. Dezember 1826 geborene Viktor Kästner war der Sohn des Pfarrers Daniel Kästner (1790-1867) und der Josefine Elisabeth, geb. Heinrich (1801-1872). Nach Absolvierung des Gymnasiums in Hermannstadt (1845) studierte er 1845-1847 an der zwischen 1844 und 1886 bestehenden Rechtsakademie der Stadt und trat als Zweiundzwanzigjähriger in den Dienst des Landesgerichts in Neumarkt/Târgu Mureș, wechselte aber als Beamter bald zum Hermannstädter Stuhlmagistrat und von dort in die Kanzlei des Sachsengrafen – des Mannes an der Spitze der Universitas Saxonum, der obersten politischen Verwaltungs- und Gerichtsbehörde der Siebenbürger Sachsen. Als er 1856 zum Bezirkskommissar der Finanz-Landesdirektion für Siebenbürgen ernannt wurde, hatte er die Teilnahme an der Gründungsversammlung des Sieben- bürgisch-Deutschen Jugendbundes in Mediasch (1848) und, Ende 1848 Anfang 1849, an den Kämpfen gegen die nationalistischen ungarischen Revolutionseinheiten, dazu die Flucht in die Kleine Walachei mit fast fünfmonatigem Aufenthalt in Craiova hinter sich. Kästner heiratete 1854 die zweiundzwanzigjährige Pauline Simonis (1832-1897), mit der er in rund dreijähriger Ehe zwei Kinder hatte: Johann Viktor (1855-1934) und Pauline (1857-1927).
Trotz bemerkenswerter zahlreicher politökonomischer Texte in Periodika des In- und Auslands, die er in der Zeit nach der Rückkehr aus Craiova veröffentlichte, trat Viktor Kästner als homo politicus niemals in dem Maße in Erscheinung wie sein fünf Jahre älterer Bruder Heinrich (1821-1894), der 1873 Hermannstädter Senator, 1880 Landeskirchenkurator wurde und 1877-1892 Reichstagsabgeordneter in Budapest war; ob der frühe Tod ihn auch daran hinderte, bleibt der Spekulation überlassen. Auf alle Fälle kam er berufsbedingt in wichtigste Zentren des Großfürstentums Siebenbürgen, und es gilt als sicher, dass er in der erregten, dank der Nationalitätenkonflikte in jener Region erst recht angespannten Epoche des Vormärz überdurchschnittlich gute Kenntnis der Verhältnisse und deren Hintergründe hatte. Die Tätigkeit im Verwaltungs- und später im Finanzdienst auf gehobener Ebene verschafften ihm ebenso Übersicht in wesentlichen Fragen, wie der Kampf und die Erschießung Stephan Ludwig Roths (1796-1849) gerade die jungen Generationen der Siebenbürger Sachsen aufgebracht und politisch wach gemacht hatte. Noch war auch, neben Roth, die überragende Gestalt Samuel von Brukenthals (1721-1803) nicht zuletzt dank der Bemühungen um Kultur, Kunst und Dichtung – darunter die Mundartdichtung – vor allem den jungen Intellektuellen in lebhaftester Erinnerung.
An Malaria erkrankt, hatte sich Kästner nach Beendigung des Studiums 1847 auf dem elterlichen Pfarrhof in Kerz aufgehalten und sich dabei zum ersten Mal bewusst der Poesie zugleich als schöpferischer und sammelnder Geist gewidmet. Damals schrieb er sein bekanntestes Gedicht, „De Brockt um Olt“ („Die Braut am Alt“), und begann, bei den Bauern Sprichwörter, Märchen, Lieder, Sagen aufzuzeichnen. Während in den zehn Vierzeilerstrophen der „Brockt um Olt“ in anrührender elegischer Melodik die Klage um ein Mädchen erklingt, das seinen Bräutigam bei einer Rettungstat im Wasser des Altflusses verlor und darüber den Liebestod stirbt, ging es Kästner bei der Nachschrift von Proben aus der Volkspoesie nicht allein um das Notat, sondern gleichzeitig um die Bewahrung im Verschwinden und Vergessen begriffener Wörter und Redewendungen, in denen er zu Recht Träger kulturhistorischer Informationen sah.
Viktor Kästners Verse zeichnen sich zunächst fast ausnahmslos durch eine Sanglichkeit der Sprache aus, die ihresgleichen in der siebenbürgisch-sächsischen Mundartpoesie nicht hat. Das wird schon nur in den beiden Anfangszeilen der „Brockt um Olt“ hörbar – „Um Olt, um Olt, um giële Rien/, do soß e Medche gonz ellien ...“ Das kann sich einer, der den weichen Singsang dieser Mundart beherrscht, auf der Zunge zergehen lassen. Der musikalische Sprachfluss, dem alles Gewaltsame fremd ist, bestimmt fast die gesamte Lyrik Kästners. Ob er das Gedicht „De Waichselbim“ („Die Weichselbäume“) mit den Zeilen beginnt: „Vir mengem Fensterchen derhim/ä Kiërz, do stohn zwin Waichselbim“, oder das Kronstadt gewidmete Gedicht „Krinen“ mit den Zeilen: „O Krine, Stadt de Ihren, / ä mi ich dich gesähn, / ä schwerer moßt ich spiren / de Schmärz bäm Ferderzähn.“ („O Kronstadt, Stadt der Ehren, / je öfter ich dich gesehn, / umso schwerer musst ich spüren / den Schmerz beim Weiterziehn.“) – dies ganz aus dem Wesen der Mundart entwickelte, ihr „abgelauschte“ Melodiöse ist das künstlerische Hauptmerkmal der Kästner-Gedichte, ja es erfährt in ihnen die klassische Verfeinerung. Die beiden Beispiele müssen des begrenzten Platzes wegen genügen. Das bei den Kennern oft kolportierte „Wä? Ech sill net Sachsesch riëden? („Wie? Ich sollte nicht Sächsisch sprechen?“) findet eben in dieser profund empfundenen Fähigkeit der Mundart zur Sublimierung eine letzte Erklärung.
Viktor Kästner starb im selben Jahr wie der oberschlesische Freiherr Joseph von Eichendorff (1788-1857), einer der Großen der deutschen Hoch- und Spätromantik. Spricht nicht einiges dafür, Kästners Lyrik nach Inhalt und Ästhetik in deren Zeichen zu verstehen? Im ausholenden Vorwort zur Kästner-Ausgabe von 1895 lehnte der Sprachforscher, Historiker und Ethnologe Adolf Schullerus (1864-1928) die Zuordnung mit wenigen Sätzen ab. Dennoch hat sie manches für sich. Das Anliegen der zweiten, dritten Generation der Romantik – der Brentano, Eichendorff, Mörike etc. – bestimmte auch Auffassung und Schaffen Viktor Kästners: die Suche nach der naiven, volksnahen und volkstümlichen Form der Dichtung – war sie nicht auch Viktor Kästners ästhetische Orientierungsidee? Die Schlichtheit des Ausdrucks – ging es Kästner nicht ebenso programmatisch um sie? Zugleich bescheideten sich diese Romantikergenerationen mit der Ein- und Unterordnung des einzelnen ins Ganze der Geschichte, des Volkes, des Glaubens – bezeichnende Haltungsmerkmale auch Kästners. Sie sammelten deutsche Sagen, Märchen, Lieder – all dies tat Kästner ebenso im Siebenbürgisch-Sächsischen. U.a.m.
Hinzu kommt noch etwas: Posthum musste sich Kästner gelegentlich sagen lassen, er habe sich in der „Idylle“ gefallen, sei ein „Idylliker“ gewesen. Nun, das mit Liebe aufgezeichnete Detail unmittelbarer regionaler Naturumgebung, Wanderlust, Begeisterung an den Altertümern der Heimat, der Bach, die Mühle, der Lindenbaum usw. tauchen bei Eichendorff etc. genauso auf wie bei Kästner. Die relative Häufigkeit der Diminutiv-Verwendungen bei Kästner – „Bechelchen“ („Bächlein“), „Nestcher“ („Nestchen“), „Uermchen“ („Armchen“) o. a. – entspricht den bei den deutschen Romantikern anzutreffenden – wenn man will: idyllisierenden – Verkleinerungen, deren sozialgeschichtliche Wurzeln bedacht werden sollten; usw. Damit fügte sich Kästners poetisches Vokabular dem der Literatursprache der Romantik ein. Es bezog, davon abgesehen, deren Neigung zum Diminutiv aus eben dieser Neigung der sächsischen Mundart selbst, besonders deren ländlichen Versionen. Das alles hat hier nur vordergründig mit „Idylle“ zu tun, es gehörte vielmehr zum Repertoire des Hauptanliegens der Romantik: der Distanzierung vom großartigen – antiken, heroischen – Stoff der Klassik, der Nähe zum Volk. Man hat das eine Demokratisierung der Ästhetik genannt; sie kennzeichnet die geniale Lyrik des oberschlesischen Adligen und das bescheidene Werk des Kerzer Pfarrersohnes. – Ein Mann des Vormärz war Kästner mit Sicherheit nicht, wie der Literaturhistoriker Stefan Sienerth richtig anmerkte (Karpatenrundschau, 31. 12. 1976), er stand vielmehr – bewusst, unbewusst – unter dem Einfluss der spätromantischen ästhetischen Positionen. Insgesamt besitzt Viktor Kästners Werk zu geringe Potenz, um problemlos in großen Literaturzusammenhängen zur Sprache gebracht zu werden. Doch steht seine regionale Bedeutung im Blickfeld der Sprachverfeinerung und der Kultivierung des Siebenbürgisch-Sächsischen als Sprache der Dichtung außer Zweifel.
In einer vor fünfzig Jahren veröffentlichten umfangreichen Ausführung zum Thema „Mundart und Hochsprache“ schrieb Erwin Wittstock (1899-1962) die folgenden Sätze über den vor anderthalb Jahrhunderten frühverstorbenen Viktor Kästner (Neuer Weg, 5. 7.1957):
„Von den Gefühlswerten der Mundart ergriffen (...) bringt er, der schöpferische Beherrscher der Volkssprache, ihre Tiefe und Innigkeit in einer Reinheit des Tones und des Herzens zum Klingen, die vor ihm (nicht da war) und nach ihm nicht wiederkehrte. Er umfasst (...) alles Anheimelnde und Vertraute in starkem Erleben von Heimat und Volk und verleiht durch sein Natur(er)leben, durch seine Wärme, durch das reine Ineinsklingen von Himmel und Gebirge, Wasser und Wiese, Blume und Feld, Dorf und Bauer unserer siebenbürgischen Klangwelt den Zug ins Große.“
So besitzen wir in Viktor Kästners Lyrik nicht allein mundartliche Kunstgebilde, in denen sensibelste innere Vibrationen einer ganzen Region schwingen, sondern auch das wertvolle Kulturdokument einer untergehenden Volkssprache, das über Geist und Gemüt ihrer Gemeinde mehr auszusagen hat als ganze Wälzer sprach- und geschichtswissenschaftlicher Transsilvanica.
Freilich stellt sich beim Versuch, Kästners schmales Werk – es umfasst nicht mehr als einen Band „Gedichte in siebenbürgisch-sächsischer Mundart“ (1862, 1877, 1885, 1927, 1957, 1997) – im Kontext von Kulturvoraussetzungen, -einflüssen, Zeitumständen und -entwicklungen möglichst komplex zu beleuchten, zugleich die Frage nach dem Fortleben von Mundarten in einer Geschichtsphase, in der auf unserem Globus monatlich Dutzende alter Sprachen und Dialekte endgültig aussterben. Die Frage stellt sich erst recht im Blick auf das Siebenbürgisch-Sächsische, dem durch den Verlust der Siedlungseinheit, in deren Rahmen dies vor allem aus rheinischen Ausgangsgebieten stammende Idiom gesprochen wurde, im wörtlichen Sinn der Boden entzogen ist. Es gehört zu den Widersprüchen unserer Epochen, dass sich andererseits gleichzeitig Sprachforscher sorgenvoll über die Beobachtung der Bildung neuer kleiner und kleinster Dialektgruppen auf Kosten der Verarmung der Hochsprache äußern – Schutzreflex vor der unaufhaltsam um sich greifenden globalen Lebensuniformisierung, nennen sie den Vorgang. Für das Siebenbürgisch-Sächsische besteht nicht einmal diese Aussicht auf Erhaltung oder Wiederbelebung. Was also, könnte gefragt werden, was soll vor dermaßen abträglichem Hintergrund alles Erinnerungsbemühen um den Poeten des 19. Jahrhunderts, auch wenn Kenner ihm einen herausragenden Platz unter den Mundartdichtern seiner kleinen, heute rapid schrumpfenden Volksgruppe bestätigen?
Der am 30. Dezember 1826 geborene Viktor Kästner war der Sohn des Pfarrers Daniel Kästner (1790-1867) und der Josefine Elisabeth, geb. Heinrich (1801-1872). Nach Absolvierung des Gymnasiums in Hermannstadt (1845) studierte er 1845-1847 an der zwischen 1844 und 1886 bestehenden Rechtsakademie der Stadt und trat als Zweiundzwanzigjähriger in den Dienst des Landesgerichts in Neumarkt/Târgu Mureș, wechselte aber als Beamter bald zum Hermannstädter Stuhlmagistrat und von dort in die Kanzlei des Sachsengrafen – des Mannes an der Spitze der Universitas Saxonum, der obersten politischen Verwaltungs- und Gerichtsbehörde der Siebenbürger Sachsen. Als er 1856 zum Bezirkskommissar der Finanz-Landesdirektion für Siebenbürgen ernannt wurde, hatte er die Teilnahme an der Gründungsversammlung des Sieben- bürgisch-Deutschen Jugendbundes in Mediasch (1848) und, Ende 1848 Anfang 1849, an den Kämpfen gegen die nationalistischen ungarischen Revolutionseinheiten, dazu die Flucht in die Kleine Walachei mit fast fünfmonatigem Aufenthalt in Craiova hinter sich. Kästner heiratete 1854 die zweiundzwanzigjährige Pauline Simonis (1832-1897), mit der er in rund dreijähriger Ehe zwei Kinder hatte: Johann Viktor (1855-1934) und Pauline (1857-1927).
Trotz bemerkenswerter zahlreicher politökonomischer Texte in Periodika des In- und Auslands, die er in der Zeit nach der Rückkehr aus Craiova veröffentlichte, trat Viktor Kästner als homo politicus niemals in dem Maße in Erscheinung wie sein fünf Jahre älterer Bruder Heinrich (1821-1894), der 1873 Hermannstädter Senator, 1880 Landeskirchenkurator wurde und 1877-1892 Reichstagsabgeordneter in Budapest war; ob der frühe Tod ihn auch daran hinderte, bleibt der Spekulation überlassen. Auf alle Fälle kam er berufsbedingt in wichtigste Zentren des Großfürstentums Siebenbürgen, und es gilt als sicher, dass er in der erregten, dank der Nationalitätenkonflikte in jener Region erst recht angespannten Epoche des Vormärz überdurchschnittlich gute Kenntnis der Verhältnisse und deren Hintergründe hatte. Die Tätigkeit im Verwaltungs- und später im Finanzdienst auf gehobener Ebene verschafften ihm ebenso Übersicht in wesentlichen Fragen, wie der Kampf und die Erschießung Stephan Ludwig Roths (1796-1849) gerade die jungen Generationen der Siebenbürger Sachsen aufgebracht und politisch wach gemacht hatte. Noch war auch, neben Roth, die überragende Gestalt Samuel von Brukenthals (1721-1803) nicht zuletzt dank der Bemühungen um Kultur, Kunst und Dichtung – darunter die Mundartdichtung – vor allem den jungen Intellektuellen in lebhaftester Erinnerung.
An Malaria erkrankt, hatte sich Kästner nach Beendigung des Studiums 1847 auf dem elterlichen Pfarrhof in Kerz aufgehalten und sich dabei zum ersten Mal bewusst der Poesie zugleich als schöpferischer und sammelnder Geist gewidmet. Damals schrieb er sein bekanntestes Gedicht, „De Brockt um Olt“ („Die Braut am Alt“), und begann, bei den Bauern Sprichwörter, Märchen, Lieder, Sagen aufzuzeichnen. Während in den zehn Vierzeilerstrophen der „Brockt um Olt“ in anrührender elegischer Melodik die Klage um ein Mädchen erklingt, das seinen Bräutigam bei einer Rettungstat im Wasser des Altflusses verlor und darüber den Liebestod stirbt, ging es Kästner bei der Nachschrift von Proben aus der Volkspoesie nicht allein um das Notat, sondern gleichzeitig um die Bewahrung im Verschwinden und Vergessen begriffener Wörter und Redewendungen, in denen er zu Recht Träger kulturhistorischer Informationen sah.
Viktor Kästners Verse zeichnen sich zunächst fast ausnahmslos durch eine Sanglichkeit der Sprache aus, die ihresgleichen in der siebenbürgisch-sächsischen Mundartpoesie nicht hat. Das wird schon nur in den beiden Anfangszeilen der „Brockt um Olt“ hörbar – „Um Olt, um Olt, um giële Rien/, do soß e Medche gonz ellien ...“ Das kann sich einer, der den weichen Singsang dieser Mundart beherrscht, auf der Zunge zergehen lassen. Der musikalische Sprachfluss, dem alles Gewaltsame fremd ist, bestimmt fast die gesamte Lyrik Kästners. Ob er das Gedicht „De Waichselbim“ („Die Weichselbäume“) mit den Zeilen beginnt: „Vir mengem Fensterchen derhim/ä Kiërz, do stohn zwin Waichselbim“, oder das Kronstadt gewidmete Gedicht „Krinen“ mit den Zeilen: „O Krine, Stadt de Ihren, / ä mi ich dich gesähn, / ä schwerer moßt ich spiren / de Schmärz bäm Ferderzähn.“ („O Kronstadt, Stadt der Ehren, / je öfter ich dich gesehn, / umso schwerer musst ich spüren / den Schmerz beim Weiterziehn.“) – dies ganz aus dem Wesen der Mundart entwickelte, ihr „abgelauschte“ Melodiöse ist das künstlerische Hauptmerkmal der Kästner-Gedichte, ja es erfährt in ihnen die klassische Verfeinerung. Die beiden Beispiele müssen des begrenzten Platzes wegen genügen. Das bei den Kennern oft kolportierte „Wä? Ech sill net Sachsesch riëden? („Wie? Ich sollte nicht Sächsisch sprechen?“) findet eben in dieser profund empfundenen Fähigkeit der Mundart zur Sublimierung eine letzte Erklärung.
Viktor Kästner starb im selben Jahr wie der oberschlesische Freiherr Joseph von Eichendorff (1788-1857), einer der Großen der deutschen Hoch- und Spätromantik. Spricht nicht einiges dafür, Kästners Lyrik nach Inhalt und Ästhetik in deren Zeichen zu verstehen? Im ausholenden Vorwort zur Kästner-Ausgabe von 1895 lehnte der Sprachforscher, Historiker und Ethnologe Adolf Schullerus (1864-1928) die Zuordnung mit wenigen Sätzen ab. Dennoch hat sie manches für sich. Das Anliegen der zweiten, dritten Generation der Romantik – der Brentano, Eichendorff, Mörike etc. – bestimmte auch Auffassung und Schaffen Viktor Kästners: die Suche nach der naiven, volksnahen und volkstümlichen Form der Dichtung – war sie nicht auch Viktor Kästners ästhetische Orientierungsidee? Die Schlichtheit des Ausdrucks – ging es Kästner nicht ebenso programmatisch um sie? Zugleich bescheideten sich diese Romantikergenerationen mit der Ein- und Unterordnung des einzelnen ins Ganze der Geschichte, des Volkes, des Glaubens – bezeichnende Haltungsmerkmale auch Kästners. Sie sammelten deutsche Sagen, Märchen, Lieder – all dies tat Kästner ebenso im Siebenbürgisch-Sächsischen. U.a.m.
Hinzu kommt noch etwas: Posthum musste sich Kästner gelegentlich sagen lassen, er habe sich in der „Idylle“ gefallen, sei ein „Idylliker“ gewesen. Nun, das mit Liebe aufgezeichnete Detail unmittelbarer regionaler Naturumgebung, Wanderlust, Begeisterung an den Altertümern der Heimat, der Bach, die Mühle, der Lindenbaum usw. tauchen bei Eichendorff etc. genauso auf wie bei Kästner. Die relative Häufigkeit der Diminutiv-Verwendungen bei Kästner – „Bechelchen“ („Bächlein“), „Nestcher“ („Nestchen“), „Uermchen“ („Armchen“) o. a. – entspricht den bei den deutschen Romantikern anzutreffenden – wenn man will: idyllisierenden – Verkleinerungen, deren sozialgeschichtliche Wurzeln bedacht werden sollten; usw. Damit fügte sich Kästners poetisches Vokabular dem der Literatursprache der Romantik ein. Es bezog, davon abgesehen, deren Neigung zum Diminutiv aus eben dieser Neigung der sächsischen Mundart selbst, besonders deren ländlichen Versionen. Das alles hat hier nur vordergründig mit „Idylle“ zu tun, es gehörte vielmehr zum Repertoire des Hauptanliegens der Romantik: der Distanzierung vom großartigen – antiken, heroischen – Stoff der Klassik, der Nähe zum Volk. Man hat das eine Demokratisierung der Ästhetik genannt; sie kennzeichnet die geniale Lyrik des oberschlesischen Adligen und das bescheidene Werk des Kerzer Pfarrersohnes. – Ein Mann des Vormärz war Kästner mit Sicherheit nicht, wie der Literaturhistoriker Stefan Sienerth richtig anmerkte (Karpatenrundschau, 31. 12. 1976), er stand vielmehr – bewusst, unbewusst – unter dem Einfluss der spätromantischen ästhetischen Positionen. Insgesamt besitzt Viktor Kästners Werk zu geringe Potenz, um problemlos in großen Literaturzusammenhängen zur Sprache gebracht zu werden. Doch steht seine regionale Bedeutung im Blickfeld der Sprachverfeinerung und der Kultivierung des Siebenbürgisch-Sächsischen als Sprache der Dichtung außer Zweifel.
In einer vor fünfzig Jahren veröffentlichten umfangreichen Ausführung zum Thema „Mundart und Hochsprache“ schrieb Erwin Wittstock (1899-1962) die folgenden Sätze über den vor anderthalb Jahrhunderten frühverstorbenen Viktor Kästner (Neuer Weg, 5. 7.1957):
„Von den Gefühlswerten der Mundart ergriffen (...) bringt er, der schöpferische Beherrscher der Volkssprache, ihre Tiefe und Innigkeit in einer Reinheit des Tones und des Herzens zum Klingen, die vor ihm (nicht da war) und nach ihm nicht wiederkehrte. Er umfasst (...) alles Anheimelnde und Vertraute in starkem Erleben von Heimat und Volk und verleiht durch sein Natur(er)leben, durch seine Wärme, durch das reine Ineinsklingen von Himmel und Gebirge, Wasser und Wiese, Blume und Feld, Dorf und Bauer unserer siebenbürgischen Klangwelt den Zug ins Große.“
So besitzen wir in Viktor Kästners Lyrik nicht allein mundartliche Kunstgebilde, in denen sensibelste innere Vibrationen einer ganzen Region schwingen, sondern auch das wertvolle Kulturdokument einer untergehenden Volkssprache, das über Geist und Gemüt ihrer Gemeinde mehr auszusagen hat als ganze Wälzer sprach- und geschichtswissenschaftlicher Transsilvanica.
Hans Bergel
Schlagwörter: Mundart, Lyrik, Porträt
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- 22.12.2007, 17:47 Uhr von der Ijel: Sah hun net abedoint Riacht Herr Bergel. 1. Zitat: Für das Siebenbürgisch-Sächsische besteht nicht ... [weiter]
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