6. Januar 2010

Russlanddeportierte erinnern sich: „Weißt du, was das heißt: Heimweh!“

Am 9. Dezember 2009 trafen sich im Haus der Heimat Nürnberg auf Einladung von Günter Czernetzky 13 Zeitzeugen, die im Januar 1945 in die Sowjetunion deportiert wurden: Johann Bielz, Katharina Borbely, Katharina Donos, Elfriede Fabian, Anni Häusler, Hermine Krulitsch, Michael Mathias und Johann Roch aus Nürnberg, Johann Martini aus Heusenstamm bei Frankfurt, Elfriede Baier aus Seukendorf bei Fürth, Johann Schuller aus Fürth, Hartmann Bell und Anna Wagner aus Schwabach.
Weitere Teilnehmer waren Dagmar Geddert aus Nürnberg, geboren im Lager Mospino, ein im Lager gezeugtes Kind und Angehörige der Verschleppten.

Nach rührenden Begrüßungen und Gesprächen bei Kaffee und Kuchen führte Czernetzky einige Interviews und Lieder aus der Deportation vor. Besonders beeindruckend waren die Lieder „Weißt du, was das heißt: Heimweh?“, „Nach meiner Heimat zieht’s mich wieder!“ und „Tief in Russland in Stalino“, gesungen vom Orzydorfer Kirchenchor, aufgenommen für die erste Radiosendung zum Thema Deportation in die Sowjetunion (Autorin: Sigrun Jäger). Im März 1990 war diese Radiosendung erstmals im rumänischen Rundfunk zu hören.
Russlanddeportierte im Haus der Heimat Nürnberg, ...
Russlanddeportierte im Haus der Heimat Nürnberg, am linken Tisch v.l.n.r.: Horst Wagner, Dagmar Geddert, Michael Mathias, Johann Martini, Wiltrud Wagner, Johann Bielz, Johann Schuller, Hartmann Bell, Heide Graef und der Historiker Dr. Michael Kroner. Fotos: Doris Hutter
Wiltrud Wagner zeigte die Fotodokumentation einer Reise in das Lager Handschonkowo (Lagernummer 1024), wobei neben neuen Gebäuden auch das viele Grün auffiel. Die großen Bäume hatten die Deportierten gepflanzt. „Damals gab es keine Bäume, nichts Grünes, es war ständig windig, trockene Erde, alles war schwarz … Die Pappeln haben wir dann gesetzt!“ Der Eingang zum Bergwerk wurde sofort wieder erkannt, und es wurden Geschichten über Unfälle erzählt. Hunderte Meter tief waren die Arbeiter in den Berg hinunter gefahren. Das Badehaus („Banja“) steht auch heute noch. Einmal wöchentlich durften die Gefangenen (offiziell: „Zivilinternierten“) baden, während ihre Kleidung entlaust wurde. Allerdings war die Heizung dafür nicht heiß genug, die Läuse überstanden die Entlausung. Als die Hygiene besser wurde, verschwanden auch die Läuse – aber nicht die Wanzen …

Allzu große Probleme, wie z.B. Epidemien, hat es in diesem Lager nicht gegeben, es war nämlich ein Vorzeigelager, in das die Inspektionen geholt wurden. Fotos, die gegen Ende der Deportation gemacht werden konnten, wurden beim Treffen herumgereicht und viele Geschichten wieder in Erinnerung gerufen. Trotz großer Entbehrungen und schwerer Leidenszeit, in der das Heimweh wie der Hunger ständiger Begleiter war, sagte ein Zeitzeuge: „Die Russen haben uns im Allgemeinen nicht schlecht behandelt.“ Hatten diese Deportierten mehr Glück als andere oder steht hier der versöhnliche, der verklärende Blick eines etwa 80-Jährigen im Vordergrund? Manche Zeitzeugen berichten über großherzige Menschen in der russischen Bevölkerung, die den Deportierten geholfen und sich dabei selbst in Gefahr gebracht hätten.
Ehemalige Deportierte beim Treffen im Haus der ...
Ehemalige Deportierte beim Treffen im Haus der Heimat in Nürnberg.
In einem kurzen Schlusswort fasste Horst Göbbel, Vorsitzender des Hauses der Heimat, einige wesentliche Gedanken zum Thema Deportation zusammen: „Diese unauslöschbaren, diese tief prägenden Lebenserfahrungen der damaligen Zeit, sie sind nicht nur mit Kälte und Hunger, mit Erschöpfung und Unfreiheit, mit Heimatverlust, mit Leid und Elend verknüpft, sie sind auch ein Beweis dafür, es größtenteils doch geschafft zu haben, neu angefangen zu haben. Die damaligen Erkenntnisse lassen uns von allen Deportierten lernen, dass Vertreibung und Deportation, dass Unfreiheit und Diktatur überall und immer Unrecht und Verbrechen bedeuten und dagegen kontinuierlich angegangen werden muss.“

Natürlich konnte dieser Tag ohne klare Hinweise auf die große Leistung der Literatur-Nobelpreisträgerin 2009 Herta Müller und ihren Roman „Atemschaukel“, das bisher vollkommenste Denkmal zum Andenken an die deportierten Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion 1945 bis 1949, nicht zu Ende gehen.

Man kann nur hoffen, dass wenigstens in den größeren Siedlungsgebieten, in denen die Siebenbürger Sachsen zurzeit wohnen, ähnliche „Lagertreffen“ mit Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen erzählen sowie die Fragen der Interessierten beantworten, organisiert werden. Unsere „lebenden Dokumente“ (so die Formulierung einer Museumsdirektorin aus Dnjepropetrowsk) werden immer seltener!

Doris Hutter

Schlagwörter: Deportation, Nürnberg

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  • 10.01.2010, 18:41 Uhr von lori: Hallo Allerseits, mich würde interessieren, ob jemand noch an der Einsichtnahme des Protokolls ... [weiter]
  • 07.01.2010, 14:46 Uhr von bankban: Danke für die Nachfrage und Herrn Czernetzky für die Antwort. [weiter]
  • 07.01.2010, 14:30 Uhr von Siegbert Bruss: Die Redaktion hat nachgefragt bei Günter Czernetzky. Er antwortet: "Ich arbeite tatsächlich an ... [weiter]

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