8. Mai 2012

Apotheose der Landschaften und Lieder

Abschlusskonzert der Musikwoche der „Gesellschaft für deutsche Musikkultur im südöstlichen Europa“ (GDMSE): Heinz Acker als Dirigent und Komponist.
Die 1997 aus dem "Arbeitskreis für südostdeutsche Musik" hervorgegangene Vereinigung mit dem etwas gespreizten (behördlicherseits angeregten) Namen „Gesellschaft für deutsche Musikkultur im südöstlichen Europa“ (GDMSE) vertritt musikalisch alle ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete in Ost- und Südosteuropa (Zips, Banat, Hauerland, Tolnau, Ofener Bergland, Schönhengstgau, Buchenland, Sathmar, Siebenbürgen, Bessarabien, Dobrudscha, Batschka, Gottschee, Slawonien, Syrmien, Wolhynien, Wolgagebiet u. a.) und organisiert im jährlichen Turnus – immer in der Woche nach Ostern in der Tagungsstätte Löwenstein – eine „Musikwoche“ mit Tagungen, wissenschaftlichen Begegnungen und Vorträgen, Instrumentalseminaren und Musiziergruppen, Chor- und Sologesang, Aufführungen und Konzerten außer Haus. Mit Letzteren wird versucht, eine Einfügung in das öffentliche Musikleben zu erreichen und gleichzeitig Musikkultur und -produktion aus jener europäischen Ecke zu dokumentieren und einem breiteren Publikum zu präsentieren.
Dr. Heinz Acker dirigierte das große ...
Dr. Heinz Acker dirigierte das große Abschlusskonzert am 14. April in der Heilbronner Harmonie. Foto: Dennis Mugler
Die konzeptionelle und organisatorische Leitung der Musikwochen lag seit Beginn und dann jahrelang in den Händen der Lehrerin und Kennerin volkstümlicher musikalischer Überlieferungen und Bräuche, Antje Neumann, worauf der unlängst verstorbene verdienstvolle Musiker und Musikpädagoge Wolfgang Meschendörfer die Leitung übernahm. Seit diesem Jahr betreut der bereits bis dahin mitgestalterisch tätig gewesene Musikwissenschaftler und Publizist Johannes Killyen zusammen mit Bettina Wallbrecht alle Belange dieser vielseitigen Einrichtung. Konzeption, Organisationsformen, Aufgaben und Ziele hat die GDMSE von ihrem Vorgänger, dem oben erwähnten Arbeitskreis übernommen. Gemäß der seit Gründung jenes Arbeitskreises (1984) maßgeblichen Aufgabenstellung für Wahrung, Erforschung, Pflege, Förderung und Weiterentwicklung südosteuropadeutscher musikalischer Traditionen als Teil der gesamtdeutschen Kultur wurden und werden in den Konzerten zum Großteil Werke von Komponisten aus den genannten Gebieten dargeboten, wobei schon manch Unbekanntes, Neues, Überraschendes zu hören war. Mit der Zeit hat sich gleichlaufend eine Tendenz zu vermehrter Komplexität und Professionalität entwickelt. So konnte man beim großen Abschlusskonzert am 14. April in der Heilbronner Harmonie, dem zentralen Veranstaltungsort der Stadt, zunächst staunen über ein „richtiges“, voll und vollständig besetztes Sinfonieorchester, einen großen gemischten Chor, einen Kinderchor und auch über die festliche, agile, geschäftige Stimmung, die bereits vor Beginn spürbar war. Bald wurde der bis auf den letzten Platz besetzte Maybach-Saal des Konzerthauses vom Zauber, der Begeisterung, Hingabe und Vitalität, aber auch von der musikalischen Leistungskraft der überwiegend jugendlichen Musiziergemeinschaft überstrahlt.

Die Früchte des Einsatzes der Dozenten waren auch jetzt wieder mit Händen zu greifen. Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, was beispielsweise der Dozent und Konzertmeister Harry Christian mit den zum Großteil jährlich wechselnden Laien- und Profimusikern sowie Schülern zustande bringt. Ebenso lobenswert und augenfällig sind die Resultate, die Heinz Acker vorzuweisen hat, der seit einigen Jahren den Chor und größere Aufführungen leitet. Der 1942 in Hermannstadt geborene, seit 1977 in Deutschland lebende emeritierte Professor Heinz Acker, weiten Kreisen bekannt als Lehrer und Mentor (er unterrichtete theoretische Fächer an der Musikhochschule Heidelberg-Mannheim), Dirigent und Orchestererzieher (er gründete und leitete das auch international erfolgreiche Bruchsaler Jugendsinfonieorchester), Fachbuchautor und Herausgeber (er verfasste eine vielbeachtete Modulationslehre und gab die Lieder von Georg Meyndt heraus), tritt zunehmend auch als schöpferischer Musiker in Erscheinung. In der Doppelfunktion als Dirigent und Komponist war er im genannten Heilbronner Konzert zu erleben.

Acker hat für die Musikwoche 2012 – es ist die siebenundzwanzigste –, orientiert „an der Zielsetzung der GDMSE“ eine Suite für Soli, gemischten Chor, Kinderchor und Orchester geschrieben, der Texte und Melodien von deutschen, jüdischen und ungarischen Volksliedern aus den erwähnten früheren Kolonistenlandschaften, aber auch aus Schlesien, Böhmen und Mähren, sowie ein Text aus der Agenda des siebenbürgischen Pfarrers, Schriftstellers, sozialpolitischen Denkers und Märtyrers Stephan Ludwig Roth zugrunde liegen. Das Heilbronner Konzert war der Uraufführung dieser abendfüllenden Suite, die einem Oratorium gleichkommt, gewidmet. Dem beeindruckenden Werk im Stil, den man gemäßigte Moderne genannt hat, steht ein Doppeltitel voran: „Carmina Selecta, Süd-östlicher Divan“. Während der reizvolle und treffende erste Titel ähnliche Werke wie Orffs Carmina Burana oder vielleicht auch Cantica Humana von Ackers Hermannstädter Lehrer Franz Xaver Dressler assoziieren lässt, wirkt die Anlehnung im zweiten Titel an Goethes West-östlichen Divan oder gar an die „Divan“ genannte antike persische Gedichtsammlung (laut Duden und Brockhaus Diwan) trotz des hübschen Wortspiels angestrengt und weniger stimmig.

Die Komposition selbst ist trotz der zahlreichen, geschickt und fast unauffällig, aber mit großer Kunstfertigkeit eingearbeiteten Melodiezitate, Variationen und tonmalerischen Elemente alles andere als eine Paraphrase. Es ist das zutiefst schöpferische und meisterliche Werk eines alle Register der kompositorischen Kunst ziehenden Kenners und Könners, eines Souveräns des Tonsatzes, des Kontrapunkts, der Orchestration, der Ausdrucksmittel und -möglichkeiten und der Fähigkeit, Inspirationen umzusetzen und sie dem Hörer mitzuteilen, differenziert, subtil, elegant, ohne je überspitzt, affektiert oder gar melodramatisch zu wirken. Schon nur das Auffangen des einer Melodie innewohnenden Potentials und seine Entführung in ungeahnte Welten und Dimensionen, in „Überhelligkeiten und Kristallsphären“, zu „Abenteuern und Schicksalen“ (Thomas Mann) zeugt von eminenter schöpferischer Gabe.

In einem einleitenden „Prolog“ werden die Buchstaben G-D-M-S-E in Töne umgesetzt – kaum ein Komponist konnte und kann sich dem Reiz und der Versuchung einer solchen allegorischen Auslegung mit alter Tradition entziehen – und bilden (gleichzeitig an den Beginn eines volkstümlichen Kanons erinnernd) neben der offensichtlichen Reverenz eine Art Leitmotiv, das die Suite durchzieht und sie beschließt.

Dieses Musikstück führt den Hörer anhand der Liedtexte und der Melodien durch die Geschichte der Südostkolonisten. Alle Aspekte und den ganzen thematischen, melodischen, geistigen und stilistischen Reichtum oder die Regsamkeit des musikalischen und volksmusikalischen Lebens einzufangen und darzustellen, ist selbstverständlich nicht möglich. Es gelingt aber Acker, eine Ahnung davon zu vermitteln. Gut ist es, dass Acker durch die Wahl der Texte mit Nachdruck bewusst macht, dass die deutschen und flandrischen Einwanderer im 12., 13. und 14. Jahrhundert und wieder im 17. und 18. Jahrhundert nicht mit Ross und Schwert eindrangen, nicht zu den Kreuzfahrern gehörten und auch nicht zu verwechseln sind mit dem Deutschen Ritterorden, der sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts vorübergehend im siebenbürgischen Südosten niedergelassen hatte, sondern sie kamen als „hospites“, als Gäste, von Königen des umfassenden ungarischen Reichs bzw. später vom österreichischen Kaiserhaus gerufen und geworben, von so genannten Lokatoren geleitet, von Geistlichen begleitet, mit ihren Habseligkeiten, Geräten und Werkzeugen für die Errichtung von Siedlungen, für Bergbau, Bodenbestellung und Handwerk. Sie brachten aber auch ihr geistiges Rüstzeug mit, ihren Glauben, ihre Volksdichtung und ihre Lieder. Wenn das alte flandrische Lied „Nach Ostland wollen wir reiten“ gesungen wird, könnte der heutige außenstehende Hörer auf andere Gedanken kommen. Doch auch in diesem Lied schon heißt es: „Da wurden wir eingelassen […] Willkommen wurd uns geboten“. Das folgende Lied „Zu Kronstadt vor dem Burgertor“ gehört zu den ältesten in Siebenbürgen entstandenen Liedern. Über das dem Minnesang nahestehende Volkslied „Es saß ein klein wild Vögelein (das auch in mehreren binnendeutschen Liederbüchern erschienen ist) wissen wir inzwischen, dass es in die Zeit vor der Auswanderung zurückgeht und von den Siedlern im 12. Jahrhundert mitgebracht worden ist (die ursprünglich äolische Melodie hat sich allerdings einer späteren Zeit angepasst). Schade dass Acker in seine einfühlsame Präsentation dieses ergreifenden, gedankenträchtigen Lieds mit seiner wunderbaren Melodie vordergründiges, lautmalerisches Vogelgezwitscher mischt, da doch der Vogel hier nichts anderes ist als Sinnbild.

Die musikalische Reise durch Zeit und Raum geht weiter. Wir können hier nicht alle Liedstationen erwähnen. Mit fortschreitendem Gang hellt die Stimmung auf. Die tragischen Akzente vom Anfang, die das schwere Schicksal der Kolonisten thematisieren, weichen mehr und mehr der Lebensfreude und Heiterkeit, den mitreißenden Rhythmen, dem ungarischen und klezmerschen Temperament. Acker verlässt „das Leid im Lied“ (Gottfried Habenicht), bezieht die Vokalsolisten mehr und mehr in den musikalischen Diskurs ein. Anklänge an Trauermelodien im Scherzlied „Vater, Ihr sollt nach Hause kommen“ sind parodistisch gemeint. An den gelegentlich mit gestischen und pantomimischen Andeutungen agierenden Sängerinnen und Sängern von hohem professionellem Niveau – Renate Dasch, Johanna Boehme, Hans Straub und Christoph Reich – hatte das Publikum seine helle Freude. Leider hatten sowohl die Solisten als auch der von Acker hervorragend geschulte Chor mit der schlechten Raumakustik zu kämpfen.

Mit Schlaf- und Wiegenliedern neigt sich die Satzfolge stimmungsvoll dem Ende zu. Hier, wie auch schon im fünften und achten Satz kommen der Kinderchor und Kindersolisten zum Einsatz.

Man konnte von Acker von vornherein erwarten, dass er den aus Deutschland übernommenen, auch in Siebenbürgen und anderen Gebieten verbreiteten volkstümlichen, sentimental-rührseligen Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausklammert.

Ein Epilog mit Choral und Fuge (einer beeindruckenden, glänzend gestalteten achtstimmigen Tripelfuge) auf einen Text von Stephan Ludwig Roth, wo quasi im Hintergrund, den Worten entsprechend, Melodiezeilen des Lutherlieds „Ein feste Burg“ und bei den Worten „Und um alle deine Söhne schlinge sich der Eintracht Band“ auch des Siebenbürgenlieds hörbar werden, beschließt meditativ und ergreifend auf die Worte „Leben – Sterben“ dieses musikalische Geschehen von höchster Dichte und Ausdruckskraft, das vielleicht auch eine Art Apotheose ist der einst stolzen und blühenden fernen Landschaften und ihrer Lieder. Danken dafür werden Acker viele: Landsleute und Weggenossen, Freunde oratorischer Werke und der Vokalmusik, Liebhaber des Volkslieds, Fachkenner, praktische Musiker, Laienmusiker, nicht informierte Intellektuelle, Freunde der einstigen Deutschen in den fremden Ländern und ihrer Kultur, Verehrer der Kompositionskunst des Autors.

Karl Teutsch

Schlagwörter: Musik, Konzert, Südosteuropa

Bewerten:

25 Bewertungen: o

Neueste Kommentare

  • 10.05.2012, 17:40 Uhr von Johann: Teutsch gelingt ein sehr eindrucksvoller und hervorragender Beitrag. Erstens wird präsize die ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.