8. März 2019

Dem Leben eine neue Richtung geben

Die Schweizer Autorin Gerlinde Michel (* 1947 in Bern) mit Wurzeln in Siebenbürgen veröffentlichte im September 2018 ihren neuesten Roman „Fremdsehen“ in der edition 8. Der Roman ist eine Aneinanderreihung kurzer Passagen mit rasantem Perspektivwechsel, in denen die vier Protagonisten entweder unmittelbar in Ich-Form oder in distanzierterer Er-Perspektive Schlüsselmomente ihres Lebens preisgeben und in der Auseinandersetzung mit teils traumatischen Erlebnissen ihrem Leben eine neue Richtung geben.
Auslöser dieses Beziehungsgeflechtes, in das zwei Ehepaare – eines älter, das andere jünger – involviert sind, ist das Vertauschen ihrer typgleichen Kameras auf einer Aussichtsplattform, wo sie gegenseitig ein Paarfoto von sich machen lassen. Das Missgeschick bleibt nicht lange unbemerkt und es passiert das, was titelgebend für den Roman ist, nämlich das „Fremdsehen“, das mit geradezu voyeuristischer Lust, wenngleich auch mit gelegentlichem Unbehagen, ausgekostet wird und zum Ausgangspunkt für eine Innenschau der Figuren wird.

Louisa, die Kunstmalerin auf dem Weg in die Abstraktion, macht eine Kehrtwende und entdeckt ihre Bestimmung im gegenständlich-figürlichen Malen von vornehmlich Frauenfiguren in verschiedenen Lebenslagen.

Ihr Ehemann Konstantin, Architekt, kein Kostverächter in Sachen Seitensprung, wird durch seine aktuelle Affäre Ileana an seine Jugendliebe erinnert und begibt sich beim Durchforsten des mütterlichen Nachlasses auf eine Reise in die siebenbürgische Vergangenheit seiner Familie, gezeichnet von der Nazizeit, dem Krieg, von Tod, Deportation und Flucht nach Deutschland mit dem Ziel, Leerstellen in seinem Leben zu schließen.
Sophie, Blumenverkäuferin, die jüngere der beiden Frauen, trägt schwer an einem Trauma aus der Kindheit, einem Erlebnis, bei dem sie kläglich versagt hat, das Schuldgefühle ausgelöst hat, die nach Aufarbeitung verlangen.

Cyrill, Sophies Freund, Altenpfleger, als Mama-Söhnchen ohne Vater aufgewachsen, gerät in einen Sturm der Gefühle, aber es gelingt ihm, die Baustellen in seinem Leben in den Griff zu bekommen.

Überhaupt lässt die Autorin dem Quartett aus recht unterschiedlichen Individuen auf dem Weg zu sich selbst und zueinander am Ende des Romans Versöhnliches zuteil werden.

Der Roman besticht durch die eigenwillige Struktur und durch die ausgefeilte, adäquate, stellenweise lyrische Sprache. Die thematischen Schwerpunkte, wie etwa der lebenslange, oft steinige Weg der Suche nach der eigenen Identität, Beziehungskrisen, die keinem erspart bleiben, angedeutete Verweise auf Krieg, Flucht und Vertreibung mit all den Fragen, die diese mit sich bringen, haben zeitlos Gültigkeit und sprechen Leser jeden Alters an. Das „Fremdsehen“ im Titel kann als Appell für mehr Verständnis und Toleranz im Miteinander gedeutet werden.

Wer Gerlinde Michel live erleben möchte, hat dazu die Gelegenheit bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse (21.-24. März), wo sie aus „Fremdsehen“ lesen wird.

KaRo


Gerlinde Michel: „Fremdsehen“. Roman. Verlag edition 8, Zürich, 2018, 200 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-85990-354-8.

Schlagwörter: Buch, Roman, Besprechung, Schweiz, Siebenbürgen, Krieg, Flucht und Vertreibung, Literatur

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